* 16 *

Während Septimus und Nicko sich im Wald verirrten, wurde Jenna von Simon Heap in die tiefsten Ödlande gebracht. Donner trottete auf einem schmalen, gewundenen Pfad durch endlose Schieferbrüche, von denen manche längst stillgelegt waren, andere hingegen so aussahen, als sei kürzlich noch darin gearbeitet worden, obwohl sie gespenstisch verlassen wirkten. Die aufgebrochene Erde und die zertrümmerten Felsen verströmten eine feindselige Atmosphäre, und Jenna fühlte, wie ihr Mut sank. Ein Ostwind strich traurig heulend über die kahlen Gipfel der Berge weiter über ihr, und dicke graue Wolken türmten sich am Himmel. Das Licht verblasste, und die Luft kühlte ab. Simon schlang seinen langen schwarzen Umhang um sich, aber Jenna fröstelte. Sie trug nur ihr leichtes Sommerkleid.
»Hör endlich auf zu zittern«, knurrte Simon.
»Ich habe keinen Umhang wie du«, gab Jenna barsch zurück.
»So einer würde dir nicht gefallen«, höhnte Simon. »Zu viel Schwarze Magie für unsere Prinzessin Tugendsam.«
»Damit macht man keine Witze«, protestierte Jenna.
»Wer sagt denn, dass ich Witze mache?«, fragte er.
Jenna verfiel in Schweigen und zitterte weiter.
»Dann nimm eben das hier und hör auf mit dem Theater«, rief Simon erbost, fischte einen Umhang aus der Satteltasche und reichte ihn ihr mürrisch. Jenna nahm ihn in der Erwartung, es handele sich um eine kratzige Pferdedecke, doch zu ihrem Erstaunen war es der schönste und prächtigste Mantel, den sie je gesehen hatte, dunkelblau, meisterhaft aus der weichsten, vom Bauchfell einer Bergziege gekämmten Wolle gewebt und mit goldener Seide gefüttert. Simon hatte ihn eigentlich Lucy Gringe schenken wollen. Er hatte die Absicht gehabt, ihn vor dem Torhaus abzulegen und im Futter einen Brief zu verstecken, den nur Lucy finden würde. Doch als er an jenem Morgen in aller Frühe ans Nordtor kam, das Gesicht mit dem dunklen Umhang verhüllt, damit ihn Gringe nicht erkannte, kam ihm Silas vergnügt entgegen, die Burgenschach-Kiste unterm Arm. Sein Vater war der Letzte, dem er begegnen wollte, und so bog er schnell ab und nahm eine Abkürzung zur Zaubererallee. Silas hatte ihn nicht bemerkt, denn er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich eine Strategie für das morgendliche Spiel zurechtzulegen. So kam es, dass der schöne und sündhaft teure Mantel, den er für Lucy ausgesucht hatte, jetzt um die Schultern von Prinzessin Tugendsam lag. Das ärgerte Simon.
Jenna wickelte sich in Lucys Mantel. Jetzt fror sie zwar nicht mehr, doch sie war sehr müde. Die düsteren Schieferbrüche zogen sich endlos hin, und der erschöpfte Donner stapfte stetig bergan. Der Pfad war schmaler geworden. Auf der einen Seite begrenzte ihn eine Schieferwand, die steil in den verhangenen Himmel ragte, und auf der anderen Seite eine tiefe Schlucht, auf deren Grund ein schwarzer Fluss voller zackiger Felsen und tückischer Strudel toste. Jenna fragte sich, ob Simon überhaupt jemals Rast machen würde. Anscheinend scherte er sich nicht darum, wie es ihr oder seinem Pferd ging. Donners Kräfte erlahmten zusehends. Ein- oder zweimal war er auf dem losen Geröll, das die Flanken der grauen Schieferberge bedeckte, ins Straucheln geraten und hätte sie fast in die Tiefe gerissen.
»Brr, Donner«, befahl Simon unvermittelt. »Brr, mein Junge.« Donner blieb stehen, schüttelte den Kopf und schnaubte müde. Jenna schaute sich um. Nun, da sie angehalten hatten, wurde sie plötzlich nervös.
Simon sprang aus dem Sattel, nahm die Zügel und sagte zu ihr: »Du kannst absteigen. Wir sind da.«
Mit einem flauen Gefühl im Magen glitt sie vom Pferd und blieb stehen, unschlüssig, ob sie davonlaufen sollte oder nicht. Das Dumme war, dass sie nicht wusste, wohin. Simon las ihre Gedanken.
»Komm bloß nicht auf die dumme Idee, wegzulaufen«, fuhr er sie an. »Hier kannst du nirgends hin. Oder willst du in einer Landwurmhöhle landen?«
»Versuch nicht, mir Angst zu machen«, erwiderte Jenna. »Du weißt genauso gut wie ich, dass sie nur nachts herauskommen.«
»Ach, tatsächlich? Aber natürlich, ich vergaß, dass unsere neunmalkluge Prinzessin alles weiß, habe ich Recht? Nun, ich kann dich heute Nacht gerne hier draußen lassen, wenn du willst. Da oben findest du eine hübsche Auswahl an Landwurmhöhlen, falls du sie dir ansehen willst.«
Jenna verspürte kein Verlangen, Simons Herausforderung anzunehmen. Sie hatte zu viele Geschichten über die riesigen grauen Landwürmer gehört, die in den Schieferbergen lebten und nachts Reisenden auflauerten. Nach Meinung einiger Leute in der Burg waren das nur Schauermärchen alter Bergarbeiter, die verbreitet wurden, um Fremde von den Schiefergruben fern zu halten, in denen gelegentlich Gold gefunden wurde, aber Jenna wusste es besser. Und so stand sie in Lucys Mantel neben Donner und blickte starr zu Boden, entschlossen, Simon nicht die Genugtuung zu geben, ihr erschrockenes Gesicht zu sehen.
Simon nahm Donner am Zaumzeug.
»Komm mit«, befahl er Jenna und führte das Pferd einen steilen Pfad hinauf. Jenna gehorchte, sah sich aber immer wieder um, um festzustellen, ob ihr ein Landwurm folgte. Sie hatte nicht das Gefühl, dass Simon ihr zu Hilfe eilen würde.
Der Pfad endete unerwartet an einer steilen Felswand.
»Trautes Heim, Glück allein«, sagte Simon und verzog das Gesicht. Jenna sah ihn verdutzt an und fragte sich, ob er möglicherweise den Verstand verloren hatte. Das hätte einiges erklärt.
»Öffnen zu dir befiehlt, Meister dein, Nomis«, murmelte Simon. Jenna lauschte seinen Worten aufmerksam und erschauderte. Wie sie mit Schrecken erkannte, handelte es sich um einen Umkehrzauberspruch. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück, denn sie wollte der Schwarzen Magie nicht zu nahe kommen.
Lautlos verwandelte sich ein Teil der Felswand in einen mächtigen runden Eisenspund, der nach außen aufschwang und sich für den Meister öffnete. Jenna schaute sich um. Eine Sekunde lang spielte sie mit dem Gedanken, sich umzudrehen und loszurennen, doch der Anblick des einsamen dunklen Tales war so wenig einladend wie das Heulen des Windes über den Bergspitzen. Sie hob den Blick, und was sie dann sah, ließ ihr Herz bis zum Hals schlagen – in einem dunklen, kreisrunden Loch auf halber Höhe einer nahen Felsnase glaubte sie das hellrote Augenpaar eines Landwurms zu erkennen, der zu ihr heruntersah.
»Was ist, kommst du nun oder nicht?«, fragte Simon und klirrte ungeduldig mit Donners Zaumzeug.
Sie musste sich zwischen dem Landwurm und Simon entscheiden – und Simon gewann, aber nur knapp. Sie holte tief Luft und folgte ihm und Donner in die Felswand.